Jürgen Nowak

Professor der Sozialen Ökonomie und der Soziologie

Mein Wissenschaftsverständnis – Figurationsanalyse

Multiplex Unitas, Einheit in der Vielfalt lässt sich nur mit einem interdisziplinärem Wissenschaftsverständnis erreichen. Drei Ansätze sind hier möglich: (1) Figurationsanalyse, (2) Weltssystemanalyse und (3) Dialogik.

Figurationsanalyse

Mit seiner Figurationssoziologie (vgl. im Folgenden Nowak 2013: 10f) überwindet Norbert Elias (1897-1990) die klassische Dichotomie des soziologischen Denkens, d.h. die Zweiteilung in Mikro- und Makrosoziologie bzw. Individuum versus Gesellschaft: entweder eine Analyse aus gesellschaftlicher Vogelperspektive „von oben“ oder eine Analyse aus der individuellen Betrachtung des Einzelnen ganz „von unten“. Der Mensch ist beides: erstens ist er als Persönlichkeit unteilbar, d.h. Individuum, und zweitens ist er gleichzeitig ein Mitglied der Gesellschaft, d.h. von ihr abhängig: wirtschaftlich, politisch, sozial, rechtlich usw. Nach Norbert Elias ist jeder Mensch durch seine Geburt in bestimmte Funktions- und Strukturzusammenhänge hineingestellt, in denen sich er einerseits anpassen muss, aber die er andererseits auch gleichzeitig zu gestalten versucht. In diesem Menschengeflecht “ist jeder der Menschen, die da auf den Straßen fremd und scheinbar beziehungslos aneinander vorübergehen, mit einem Wort, durch eine Fülle von unsichtbaren Ketten an andere Menschen gebunden, sei es durch Arbeits- oder Besitzketten, sei es auch durch Trieb- und Affektketten” (Elias 1987: 33).

Norbert Elias nennt diese Handlungsketten und Funktionskreisläufe Interdependenzketten, die nach seiner Ansicht in den letzten Jahrhunderten immer länger und damit komplexer geworden sind. Er sieht das meist als Polarität konstruierte Gegenüber von Individuum und Gesellschaft in einem engen Verflechtungszusammenhang. Die Dichotomie von Individuum und Gesellschaft hebt er in dem Begriff Figuration auf.

“Der Begriff der Figuration dient dazu, ein einfaches begriffliches Werkzeug zu schaffen, mit dessen Hilfe man den gesellschaftlichen Zwang, so zu sprechen und zu denken, als ob ,Individuum‘ und ,Gesellschaft‘ zwei verschiedene und überdies auch antagonistische Figuren seien, zu lockern. …
Wenn vier Menschen um den Tisch herumsitzen und miteinander Karten spielen, bilden sie eine Figuration. Ihre Handlungen sind interdependent. …
Man kann ihn auf relativ kleine Gruppen ebenso wie auf Gesellschaften, die Tausende oder Millionen interdependenter Menschen miteinander bilden, beziehen. Lehrer und Schüler in einer Klasse, Arzt und Patienten in einer therapeutischen Gruppe, Wirtshausgäste am Stammtisch, Kinder im Kindergarten, sie alle bilden relativ überschaubare Figurationen miteinander, aber Figurationen bilden auch Bewohner eines Dorfes, einer Großstadt oder einer Nation, obgleich in diesem Fall die Figuration deswegen nicht direkt wahrnehmbar ist, weil die Interdependenzketten, die die Menschen aneinander binden, sehr viel länger und differenzierter sind” (Elias 1986: 141 und 143).

Norbert Elias will mit dem Begriff Figuration die Vorstellung von der Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft untersuchen. Diese Zusammenhänge bestehen in empirisch nachweisbaren Sachverhalten ökonomischer, politischer, sozialer und familiensoziologischer Entscheidungen unterschiedlicher Akteure, deren Verhaltensweisen sich wechselseitig auf makro-, meso- und mikrogesellschaftlichen Ebenen in zahlreichen funktionalen Interdependenzketten bedingen.

“Er ist mit seiner Geburt in einen Funktionszusammenhang von ganz bestimmter Struktur hineingestellt; in ihn muß er sich fügen, ihm nach sich gestalten und von ihm aus unter Umständen weiterbauen.
Er lebt und er lebte von klein auf in einem Netzwerk von Abhängigkeiten. … Dieses Grundgerüst von interdependenten Funktionen aber, …, es ist nicht eine Schöpfung einzelner Individuen …
Das Gewebe der interdependenten Funktionen, durch die die Menschen sich gegenseitig binden, hat ein Eigengewicht und eine Eigengesetzlichkeit …
… kraft dieser unaufhebbaren Interdependenz der individuellen Funktionen müssen sich … die Aktionen vieler einzelner Individuen unaufhörlich zu langen Handlungsketten zusammenschließen, damit die Handlung jedes Einzelnen ihren Sinn erfüllt. …; er ist dadurch gebunden, daß er ständig in funktioneller Abhängigkeit von anderen Menschen lebt; er ist ein Glied in den Ketten, die andere Menschen bindet, jeder andere – mittelbarer oder unmittelbarer – ein Glied in den Ketten, die ihn selber binden“ (Elias 1987: 31-34).

Wer als Sozialwissenschaftler/in interdisziplinär analysieren möchte, der/die muss lernen, figurativ zu denken. Gerade das Thema Transnationalisierung erfordert
(a) die Analyse der Wechselseitigkeiten zwischen der globalen Systemwelt, der sich anbahnenden Weltgesellschaft und dem Nationalstaat bzw. den Nationalstaaten
(b) die Analyse der Wechselseitigkeiten zwischen den Ländern bzw. Nationalstaaten und
(c) besonders wichtig die Wechselseitigkeiten zwischen der vielfältigen komplexen Systemwelt einerseits und der Lebenswelt der Individuen andererseits.

Literatur
Elias, Norbert 1987: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt am Main
Elias, Norbert 1986: Was ist Soziologie. 5. Auflage. München
Nowak, Jürgen 2013: Homo transnationalis. Soziale Arbeit zwischen Menschenrechten und Menschenhandel. Opaden